Angst

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Begriffsdefinition und Abgrenzung

Was ist Angst?

Angst ist ein negativer Gefühlszustand, der bei Hunden in scheinbar bedrohlichen Situationen auftritt, auch wenn keine unmittelbar erkennbare Gefahr vorliegt. Sie dient als Schutzmechanismus, kann aber bei chronischem Verlauf stark lebensqualitätsmindernd wirken und in problematisches Verhalten übergehen.

Abgrenzung zu Furcht, Phobie, Panik und generalisierter Angst

  • Furcht ist eine unmittelbare Reaktion auf eine konkrete, erkennbare Bedrohung.
  • Phobie beschreibt eine übersteigerte, unangemessene Angstreaktion auf spezifische Reize, z. B. Feuerwerk oder bestimmte Geräusche.
  • Panik bezeichnet einen Zustand extrem hoher Angst mit vegetativen und motorischen Ausfallerscheinungen wie z. B. unkontrollierter Flucht.
  • Generalisierte Angst ist ein langanhaltender Zustand erhöhter Alarmbereitschaft, häufig ohne klar benennbaren Auslöser.

Biologische und psychologische Grundlagen

Angstprozesse beruhen auf komplexen neurobiologischen Vorgängen im Zentralnervensystem. Dabei sind insbesondere die Amygdala, das limbische System und hormonelle Regelkreise beteiligt. Klassische und operante Konditionierungsprozesse tragen zur Verfestigung oder Abschwächung von Angstmustern bei.

Ursachen von Angst

Genetische Veranlagungen und rassespezifische Aspekte

Die genetische Disposition spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Angstverhalten. Bestimmte Rassen oder Linien zeigen eine höhere Reizempfindlichkeit oder geringere Stresstoleranz. Auch die genetische Selektion auf bestimmte Eigenschaften (z. B. hohe Wachsamkeit oder Sensibilität) kann sich auf die Angstbereitschaft auswirken.

Negative Erfahrungen und Traumata

Hunde, die in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht haben – etwa durch Misshandlung, Strafe, Isolation oder Überforderung – entwickeln häufiger Angstreaktionen. Ein einzelnes traumatisches Erlebnis kann langfristige Auswirkungen haben, insbesondere wenn es in einer sensiblen Entwicklungsphase stattfand.

Mangelhafte Sozialisierung und Habituation

Eine fehlende oder unzureichende Gewöhnung an relevante Umweltreize während der sensiblen Phase der Sozialisierung (3. bis ca. 12. Lebenswoche) kann dazu führen, dass Hunde alltägliche Situationen später als bedrohlich erleben. Dazu zählen fremde Menschen, Tiere, Geräusche und unbekannte Umgebungen.

Unkontrollierbare Umweltreize

Plötzliche, nicht vorhersehbare Reize wie laute Geräusche (Feuerwerk, Donner), fremde Gerüche oder schnell nähernde Objekte können Angst auslösen – besonders, wenn keine Möglichkeit zur Kontrolle oder Flucht besteht.

Organische und medizinische Ursachen

Chronische Schmerzen, neurologische Erkrankungen, hormonelle Dysbalancen (z. B. Schilddrüsenunterfunktion) oder altersbedingte Veränderungen (z. B. kognitive Dysfunktion) können Angstverhalten begünstigen oder verstärken. Eine tierärztliche Abklärung sollte bei Verdacht immer erfolgen.

Neurobiologische Grundlagen und Entstehung

Angst ist tief im Nervensystem verankert und entsteht durch das Zusammenspiel verschiedener Hirnregionen und hormoneller Regelkreise. Anders als Furcht, die unmittelbar durch den Sympathikus ausgelöst wird, ist Angst häufig mit einer längerfristigen Stressreaktion verbunden.

Zentrale biologische Mechanismen:

  • Die Amygdala spielt eine Schlüsselrolle bei der emotionalen Bewertung von Reizen. Sie erkennt potenzielle Gefahren – auch solche, die nur vermutet oder erinnert werden.
  • Die Aktivierung der Amygdala führt zur Ausschüttung von Corticotropin Releasing Hormone (CRH), was die sogenannte HPA-Achse in Gang setzt:
 * Hypothalamus → Hypophyse → Nebennierenrinde → Ausschüttung von Cortisol
  • Cortisol wirkt auf den gesamten Organismus: Es erhöht die Wachsamkeit, unterdrückt Verdauung und Immunsystem und verlängert die Erregungslage.
  • Bei chronischer Angst kommt es zur Langzeitpotenzierung bestimmter Verknüpfungen im Gehirn – die Angst wird damit leichter wieder ausgelöst und schwerer gelöscht.

Diese Prozesse laufen automatisch und unbewusst ab. Ein Hund, der unter Angst leidet, kann sich nicht „zusammenreißen“ – er reagiert aufgrund tiefgreifender körperlicher Zustände.

→ Weiterführend: Stress, Emotionen, Verhaltensprobleme

Ausdruck von Angst

Körpersprachliche Signale

Angst zeigt sich beim Hund häufig über deutlich erkennbare Körpersprache. Zu den häufigsten Anzeichen zählen:

  • Eingezogene Rute
  • Geduckte Haltung
  • Abgewandter Blick
  • Zittern, Hecheln, Speichelfluss
  • Geringe Körperspannung oder eingefrorene Körperhaltung

Auch Mikrosignale wie das Heben einer Pfote, das Anlegen der Ohren oder das Lecken über die Schnauze können frühe Hinweise auf Unbehagen und beginnende Angst sein.

Verhaltensreaktionen

Die Reaktionen eines Hundes auf angstauslösende Reize können sehr unterschiedlich sein:

  • Fluchtverhalten: Versuch, sich dem Auslöser zu entziehen.
  • Vermeidung: Hund versucht, die Situation zu umgehen oder in sicherer Entfernung zu bleiben.
  • Freezing: Bewegungsstarre – der Hund „friert ein“.
  • Aggressionsverhalten: In manchen Fällen zeigt der Hund aggressives Verhalten als selbstschützende Strategie.

Vegetative Symptome

Auch körperliche (vegetative) Stresssymptome sind häufig:

  • Erhöhter Herzschlag und Atmung
  • Verdauungsstörungen (z. B. Durchfall, Erbrechen)
  • Pupillenerweiterung
  • Schwitzen an den Pfoten

Diese Symptome zeigen, dass Angst nicht nur ein psychischer, sondern auch ein physiologisch relevanter Zustand ist.

Lernprozesse im Zusammenhang mit Angst

Klassische Konditionierung

Bei der klassischen Konditionierung wird ein ursprünglich neutraler Reiz (z. B. ein Geräusch) mit einem unangenehmen Erlebnis verknüpft. Nach mehrfacher Kopplung genügt bereits das Auftreten des Reizes, um eine Angstreaktion auszulösen.

Beispiel: Ein Hund hört vor einem schmerzhaften Tierarztbesuch immer das Klacken einer Metalltür. Nach einigen Wiederholungen zeigt der Hund bereits beim Geräusch der Tür Anzeichen von Angst.

Operante Konditionierung

Hierbei lernt der Hund durch Konsequenzen seines Verhaltens. Vermeidung oder Flucht vor angstauslösenden Reizen wird als „erfolgreich“ erlebt und somit häufiger gezeigt – das Verhalten wird also negativ verstärkt.

Beispiel: Ein Hund zieht sich bei einem lauten Geräusch in eine Box zurück. Wenn er dort Ruhe findet, lernt er: „Rückzug lindert Stress“, und wird dieses Verhalten häufiger zeigen.

Neuronale Verknüpfungen und Angstgedächtnis

Angstreaktionen werden im limbischen System, besonders in der Amygdala, gespeichert. Diese Verknüpfungen sind besonders hartnäckig – Angstlernen erfolgt schnell, die Löschung hingegen ist langwierig. Ein einmal als gefährlich gespeicherter Reiz kann selbst nach langer Zeit erneut eine starke Reaktion auslösen (sog. „Spontanerholung“).

Training bedeutet also nicht Löschen, sondern: Ersetzen und Überschreiben durch neue, positive Erfahrungen.

Formen und Klassifikation von Angst

Angst äußert sich bei Hunden in sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen. Für die Verhaltenstherapie ist es entscheidend, die Art und Ausprägung der Angst korrekt einzuordnen.

Typische Angstformen:

  • Situationsspezifische Angst: Angst tritt nur in bestimmten Kontexten auf (z. B. Tierarzt, Autofahrt, enge Räume).
  • Geräuschangst: Reaktion auf laute oder ungewohnte Geräusche (z. B. Donner, Feuerwerk, Staubsauger).
  • Trennungsangst: Stressreaktion beim Alleinsein oder bei Trennung von Bezugspersonen.
  • Angst vor Menschen oder Artgenossen: Oft Folge mangelnder Sozialisation oder negativer Erfahrungen.
  • Generalisierte Angststörung: Der Hund zeigt übermäßige Wachsamkeit und Unsicherheit in vielen Alltagssituationen – ohne klaren Auslöser.
  • Panikattacken: Plötzliche, extreme Angstreaktionen mit vollständigem Kontrollverlust, häufig ohne erkennbaren Auslöser.

Weiterführend

→ Siehe auch: Spezielle Angsttypen (ausgelagerter Artikel mit Beispielen, Symptomen und Differenzialdiagnostik)

Die Übergänge zwischen den einzelnen Formen sind oft fließend. Manche Hunde entwickeln zunächst Angst in einem bestimmten Kontext – und beginnen später, diese auf andere Situationen zu übertragen (sog. Generalisierung).

Ein frühzeitiges Erkennen und differenziertes Verstehen der Angstform ist die Voraussetzung für erfolgreiche therapeutische Maßnahmen.

Verhalten und Ausdruck von Angst

Angst beeinflusst das gesamte Verhalten eines Hundes – sowohl körperlich als auch sozial. Je nach Persönlichkeit, Lerngeschichte und Situation kann sie sich sehr unterschiedlich äußern.

Typische Verhaltensmerkmale bei ängstlichen Hunden:

  • Vermeidung von Reizen oder Situationen (z. B. Wegducken, Umkehren, sich verkriechen)
  • Beschwichtigungsverhalten: Lecken, Gähnen, Abwenden, geduckte Körperhaltung
  • Übersprungshandlungen: Kratzen, Schnüffeln, plötzliches Schütteln
  • Erhöhte Vokalisation: Winseln, Jaulen, exzessives Bellen
  • Erstarren oder motorische Unruhe (Hin- und Herlaufen)
  • Angstbedingte Unsauberkeit, Speicheln oder Zittern

Die Körpersprache ängstlicher Hunde ist häufig gekennzeichnet durch:

  • eingezogene Rute
  • angelegte Ohren
  • geweitete Pupillen
  • gespannte Muskulatur
  • geduckte oder rückwärtsgerichtete Haltung

Angst ist ein verinnerlichtes Gefühl, das sich aber durch beobachtbares Verhalten ausdrückt. Entscheidend ist, die Signale frühzeitig zu erkennen, richtig zu deuten und in den Trainingsansätzen zu berücksichtigen.

→ Weiterführend: Ausdrucksverhalten, Emotionen, Kommunikation

Folgen chronischer Angst

Wenn Angst nicht erkannt oder behandelt wird, kann sie sich verfestigen und zu weitreichenden Verhaltens- und Gesundheitsproblemen führen. Der Hund lebt dann in einem dauerhaften Zustand erhöhter Erregung und Unsicherheit.

Mögliche Folgen chronischer Angst:

  • Verhaltensstörungen: zwanghaftes Verhalten, stereotype Bewegungsmuster, Selbstverletzung
  • Sozialer Rückzug: Meidung von Menschen, Hunden oder bestimmten Orten
  • Generalisiertes Vermeidungsverhalten: immer mehr Situationen werden als bedrohlich erlebt
  • Angst-Aggression: aus Hilflosigkeit und Unsicherheit kann es zu Schnappen oder Beißen kommen
  • Psychosomatische Belastungen: gestörtes Fressverhalten, Verdauungsprobleme, geschwächtes Immunsystem
  • Lernverweigerung: der Hund ist nicht mehr aufnahmefähig für Training oder Signale

Unbehandelte Angst reduziert langfristig die Lebensqualität des Hundes – und oft auch die seiner Bezugspersonen. Deshalb ist es wichtig, nicht nur das Verhalten zu „korrigieren“, sondern die emotionalen Ursachen ernst zu nehmen.

→ Siehe auch: Verhaltensprobleme, Training, Angstbewältigung

Therapeutische Ansätze

Desensibilisierung

Bei der systematischen Desensibilisierung wird der Hund schrittweise und kontrolliert an den angstauslösenden Reiz gewöhnt – beginnend mit einer Reizintensität, die noch keine Angstreaktion auslöst.

Ziel: Aufbau einer Toleranzschwelle durch kontrollierte Wiederholungen unterhalb der Erregungsschwelle.

Beispiel: Ein Geräuschphobiker wird zunächst mit sehr leisen Tonaufnahmen konfrontiert, die langsam gesteigert werden – immer begleitet von Entspannung und Belohnung.

Gegenkonditionierung

Gegenkonditionierung bedeutet, dass ein ehemals negativ besetzter Reiz mit einer positiven Erfahrung verknüpft wird – z. B. durch hochwertige Futterbelohnung.

Ziel: Umbewertung des Reizes – von „Gefahr“ zu „Chance auf Belohnung“.

Wichtig: Nur sinnvoll einsetzbar, wenn der Hund nicht bereits in hoher Erregung oder Panik ist – Lernfähigkeit ist dann stark eingeschränkt.

Aufbau von Alternativverhalten

Ein hilfreiches Verhalten (z. B. Blickkontakt aufnehmen, Platz machen) wird gezielt trainiert, um in angstauslösenden Situationen eine handlungsfähige Alternative zum „Reflexverhalten“ zu bieten.

Beispiel: Hund lernt, sich bei Unsicherheit hinter dem Besitzer zu positionieren.

Management und Umweltgestaltung

  • Reizausschluss und Reizkontrolle (z. B. Spaziergänge in reizarmer Umgebung)
  • Strukturierter Tagesablauf zur Förderung von Vorhersehbarkeit
  • Schaffung sicherer Rückzugsorte (z. B. Box, ruhiger Liegeplatz)

Einsatz von Entspannungssignalen

Entspannungsverhalten kann durch gezieltes Training abrufbar gemacht werden (klassische oder operante Konditionierung).

Beispiel: Konditionierung auf ein bestimmtes Wort („Ruhe“) oder eine Berührung (z. B. Ohrenmassage) zur Förderung innerer Sicherheit.

Management im Alltag

Vermeidung und Reizkontrolle

Angstverhalten kann durch gezielte Vermeidung kritischer Situationen reduziert werden – besonders während der Trainingsphase. Dabei geht es nicht um „Verdrängen“, sondern um eine bewusste Steuerung der Reizintensität.

Beispiele:

  • Meiden von Orten mit bekannten Auslösern (z. B. Baustellen, Hundewiesen bei Hundebegegnungsangst)
  • Spaziergänge zu Tageszeiten mit geringem Umweltstress
  • Reizarme Rückzugsorte schaffen

Strukturierter Tagesablauf

Ein vorhersehbarer Alltag mit festen Abläufen vermittelt dem Hund Sicherheit und Stabilität. Besonders bei unsicheren Hunden kann dies das Erregungsniveau deutlich senken.

Typische Strukturgeber:

  • feste Gassizeiten
  • ritualisierte Fütterung
  • klare Signale für Ruhe, Aktivität und Training

Sicherheit durch Hilfsmittel

Technische und räumliche Hilfsmittel können helfen, Risiken zu minimieren:

  • Maulkorb (entsprechend auftrainiert) bei Unsicherheit in unübersichtlichen Situationen
  • Schleppleine für kontrolliertes Bewegungsmanagement
  • Box oder geschützter Liegeplatz zur Stressreduktion
  • Thundershirt oder Calming Cap in akuten Stressphasen

Menschliche Kompetenz und Verhalten

Der Umgang des Menschen mit dem Hund hat entscheidenden Einfluss auf das emotionale Befinden. Wichtig sind:

  • Souveränität und Klarheit im Verhalten
  • Körpersprache bewusst einsetzen
  • Nicht in Panik verfallen – ruhiges Management wirkt deeskalierend
  • Positives Verhalten aktiv belohnen

Langfristige Ziele im Alltagstraining

Angst und Bindung

Bedeutung der Bindung für das emotionale Gleichgewicht

Eine sichere Bindung zwischen Hund und Mensch kann die emotionale Resilienz des Hundes maßgeblich stärken. Der Mensch wird zur verlässlichen Bezugsperson („sichere Basis“), von der aus der Hund die Welt erkundet, und gleichzeitig zum Rückzugsort („sicherer Hafen“) in Stress- oder Gefahrensituationen.

  • Hunde mit sicherer Bindung zeigen weniger ausgeprägte Angstverhalten.
  • Oxytocin-Ausschüttung bei körperlicher Nähe wirkt angstlösend und beruhigend.

Trösten – hilfreich oder kontraproduktiv?

Trösten ist dann hilfreich, wenn es beruhigend, ruhig und authentisch geschieht. Übertriebene Fürsorge, hektisches Verhalten oder Mitleid können hingegen die Aufregung des Hundes steigern.

Leitlinie:

  • Körperliche Nähe ja – aber ruhig und klar.
  • Positive Orientierung statt Mitleid.
  • Kein Verstärken der Angst durch unbewusste Verstärker (z. B. hektisches Streicheln, nervöse Stimme).

Förderung von Bindung im Alltag

  • Gemeinsame Erlebnisse (z. B. Suchspiele, entspannte Spaziergänge)
  • Verlässlichkeit im Verhalten des Menschen
  • Klarheit in Kommunikation und Körpersprache
  • Einfühlsames, aber souveränes Verhalten in Stresssituationen

Tests zur Bindungsqualität

  • Adaptierte Varianten des Ainsworth Strange Situation Test (ASST) ermöglichen wissenschaftlich fundierte Aussagen über die Bindung zwischen Hund und Halter.
  • Beobachtungskriterien: Näheverhalten, Spielverhalten, Blickverhalten, Stressreduktion durch Bezugsperson

Löschung und Reizverarbeitung

Prinzip der Löschung (Extinktion)

Bei der Extinktion wird ein konditionierter Reiz (CS), der zuvor mit einem aversiven Ereignis (US) verknüpft war, mehrfach ohne das unangenehme Ereignis präsentiert. Bleibt die negative Konsequenz aus, kann die Angstreaktion allmählich schwächer werden.

Wichtig:

  • Extinktion ist kein Vergessen, sondern ein Lernen, dass der Reiz „ungefährlich“ geworden ist.
  • Rückfälle (Spontanerholung) sind möglich – deshalb ist kontinuierliches Training entscheidend.

Gegenkonditionierung als Reiz-Neubewertung

Wird der vormals negativ besetzte Reiz gezielt mit positiven Erfahrungen (z. B. Futter, Spiel, Nähe) gekoppelt, kann eine Umdeutung im emotionalen Bewertungssystem des Hundes stattfinden.

Beispiel: Ein Hund, der Angst vor Fahrrädern hat, bekommt bei Annäherung eines Rads ein besonders hochwertiges Leckerli. Nach mehrfacher Wiederholung wird das Fahrrad als „Signal für Belohnung“ wahrgenommen.

Aufbau alternativer Reaktionen

Neue, adaptive Verhaltensweisen werden gezielt trainiert, um sie in kritischen Situationen abrufen zu können. Dies ersetzt das problematische Verhalten (z. B. Panik oder Aggression) durch etwas steuerbares.

Typische Alternativen:

  • Blickkontakt zum Menschen
  • Target-Training (Nasen-/Pfotenziel)
  • Rückzugsverhalten auf Signal

Umgang mit Reizüberflutung

Ein Training ohne ausreichende Reizkontrolle kann zur Habituationsblockade oder gar zur Sensibilisierung führen – der Hund wird empfindlicher statt robuster.

Daher:

  • Reizintensität und Abstand immer so wählen, dass Lernen möglich bleibt.
  • Pausen und Ruhephasen zur Reizverarbeitung integrieren.

Folgen chronischer Angst

Wenn Angst nicht erkannt oder behandelt wird, kann sie sich verfestigen und zu weitreichenden Verhaltens- und Gesundheitsproblemen führen. Der Hund lebt dann in einem dauerhaften Zustand erhöhter Erregung und Unsicherheit.

Mögliche Folgen chronischer Angst:

  • Verhaltensstörungen: zwanghaftes Verhalten, stereotype Bewegungsmuster, Selbstverletzung
  • Sozialer Rückzug: Meidung von Menschen, Hunden oder bestimmten Orten
  • Generalisiertes Vermeidungsverhalten: immer mehr Situationen werden als bedrohlich erlebt
  • Angst-Aggression: aus Hilflosigkeit und Unsicherheit kann es zu Schnappen oder Beißen kommen
  • Psychosomatische Belastungen: gestörtes Fressverhalten, Verdauungsprobleme, geschwächtes Immunsystem
  • Lernverweigerung: der Hund ist nicht mehr aufnahmefähig für Training oder Signale

Unbehandelte Angst reduziert langfristig die Lebensqualität des Hundes – und oft auch die seiner Bezugspersonen. Deshalb ist es wichtig, nicht nur das Verhalten zu „korrigieren“, sondern die emotionalen Ursachen ernst zu nehmen.

→ Siehe auch: Verhaltensprobleme, Training, Angstbewältigung

Rechtlicher Kontext bei Angstverhalten

Relevanz von Angstverhalten im Ordnungsrecht

Angstbedingtes Verhalten kann – insbesondere bei Flucht oder aggressiven Abwehrreaktionen – zur Gefährdung von Menschen oder Tieren führen. In solchen Fällen greifen behördliche Vorschriften aus den jeweiligen Hundehalteverordnungen der Länder.

Beispiele für relevante Vorschriften:

  • Maulkorb- oder Leinenpflicht bei auffälligem Verhalten (§ 3 HundehV Brandenburg)
  • Wesensprüfungen zur Klärung der Gefährlichkeit (§ 10 HundehV)
  • Erlaubnispflicht für das Halten gefährlicher Hunde (§ 6 HundehV)

Einschätzung der Gefährlichkeit

Die Angst als Ursache eines problematischen Verhaltens muss im Rahmen einer Verhaltensanalyse (z. B. durch zertifizierte Fachpersonen) differenziert betrachtet werden. Nicht jeder aggressive Hund ist gefährlich – und nicht jeder ängstliche Hund harmlos.

Typische Merkmale für behördlich relevante Auffälligkeiten:

  • Schnappen oder Beißen aus Angst
  • unkontrollierte Flucht mit Gefährdung Dritter
  • massive Vermeidung und Abwehr bei tierärztlichen oder alltäglichen Situationen

Anforderungen an Halterinnen und Halter

  • Nachweis der Sachkunde (§ 7 HundehV)
  • Nachweis der Zuverlässigkeit (§ 8 HundehV)
  • Verpflichtung zur tierschutzgerechten Haltung und Verhaltenssicherung (§ 2 TierSchG)

Tierschutzaspekte bei Angsthunden

Laut § 1 TierSchG darf kein Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt bekommen. Chronische Angst zählt hierbei als „Leiden“, was bedeutet:

  • Trainingsmethoden dürfen nicht auf Einschüchterung oder Schmerz basieren.
  • Therapie muss individuell angepasst, fachlich begleitet und tierschutzkonform sein.

Prävention und Früherkennung

Frühe Sozialisierung und Habituation

Die Grundlage für einen souveränen, umweltstabilen und angstfreien Hund wird in der frühen Entwicklungsphase gelegt. In der sensiblen Sozialisierungsphase (etwa von der 3. bis zur 12.–14. Lebenswoche) sollte der Welpe vielfältige, systematisch positiv verknüpfte Erfahrungen mit Menschen, Tieren, Umweltreizen, Geräuschen und Alltagssituationen machen können.

Wichtige Aspekte:

  • Ruhige, positiv geführte Begegnungen
  • Kurze, altersgerechte Trainingsimpulse
  • Keine Reizüberflutung

Erkennen früher Warnsignale

Angst entwickelt sich oft schleichend. Frühwarnzeichen zu erkennen, kann spätere Probleme verhindern.

Zu den Warnsignalen gehören:

  • Unsicheres Verhalten bei Neuem (z. B. Ausweichen, Erstarren)
  • Vermeidungsverhalten bei Sozialkontakten
  • Häufiges Gähnen, Lecken, Zittern ohne erkennbare Ursache
  • Überreaktion auf scheinbar neutrale Reize

Förderung von Resilienz

Resilienz bezeichnet die „Widerstandsfähigkeit“ gegenüber Stress und belastenden Situationen. Sie lässt sich gezielt fördern durch:

  • positive Lernerfahrungen mit kontrollierbaren Herausforderungen
  • Aufbau von Problemlöseverhalten (z. B. bei Futtersuchspielen)
  • stabile Bindung zur Bezugsperson
  • Training auf Basis positiver Verstärkung

Gesundheitsvorsorge

Auch körperliche Gesundheit beeinflusst das Verhalten entscheidend. Früherkennung von Schmerzen, neurologischen Auffälligkeiten oder hormonellen Dysbalancen gehört zur Prävention.

Regelmäßige Checks:

  • Schilddrüse (bei Verhaltensveränderungen!)
  • orthopädische Untersuchung
  • Zahnstatus, Augen, Gehör, Bewegungsapparat

Anleitung durch Fachpersonen

Professionelle Unterstützung durch erfahrene Verhaltenstrainer:innen oder Verhaltenstierärzt:innen ist sinnvoll:

  • bei ängstlichem Verhalten in der Welpen- oder Junghundezeit
  • bei ungewöhnlich heftigen Reaktionen auf alltägliche Reize
  • zur Einschätzung der Entwicklung bei Tierschutzhunden